Bindungstheorie in nicht-monogamen Beziehungen: “Polysecure”
In dieser Podcastfolge geht es um Bindungstheorie: Ich spreche über das Buch “Polysecure” von Jessica Fern. Darin geht es um Bindungstheorie und wie polyamore bzw. nicht-monogame Beziehungen von diesem Modell profitieren können. Dieser Artikel fasst die Podcastfoge im Sinne von ausführlichen Shownotes bzw. einer Transkription zusammen.
Zunächst aber ein Check-In in meiner Rubrik “Ich gspürmi, ich fühlmi”. Ich freue mich, mal wieder zu podcasten und das ohne Druck. Die letzten zwei Monate waren von diversen Gesundheitsthemen belastet, ausserdem lief auch privat sehr viel. Einerseits frustriert, weil ich eigene Projekte nicht vorantreiben kann wie gewünscht. Andererseits übe ich, mir und meinem Körper das zu geben, was ich brauche. Ich merke auch, wie krank Sein mich isoliert.
Neuigkeiten bei queer.growing.support
Dann noch ein paar Neuigkeiten von queer.growing.support, es ist doch einiges gelaufen seit Jahresbeginn. Erstens habe ich meine Webseite etwas überarbeitet, ich habe im Menüpunkt “Für dich” die Link-Liste aktualisiert und den Wochenplaner überarbeitet. Jetzt kann er ohne Anmeldung des Newsletters heruntergeladen werden. Das ist marketingtechnisch wahrscheinlich nicht klug, aber ich habe sowieso kaum Zeit, Newsletter zu verschicken.
Zweitens schliesse ich demnächst meine Ausbildung ab und werde deshalb auch meine Preise anpassen. Ab 1.7. kosten 60min Beratung 120 CHF, 90min 180 CHF, unabhängig davon, ob die Beratung online oder vor Ort stattfindet. Vergünstigungen sind immer möglich, ich bin gerne bereit für Menschen mit geringerem Einkommen den Preis anzupassen. Alle, die aktuell bei mir in Beratung sind, können bis Ende Jahr noch die alten Preise zahlen.
Drittens habe ich neue Portrait-Fotos machen lassen – mein erstes eigenes Fotoshooting! Die Fotos seht ihr auf der Webseite und meinem Insta-Account.
Und schliesslich noch ein kleiner Ausblick: Ich plane für den Juni, den Pride-Monat, eine kleine Instagram-Aktion. Für jeden Tag im Juni wird es einen Post mit Zitaten rund um Queerness und psychische Gesundheit geben. Das können Facts, historische Gegebenheiten, politische Forderungen oder Anregungen für die eigene Self-Care sein. Schaut also vorbei auf meinem Instagram!
Im Herbst werde ich ausserdem noch eine Weiterbildung in Paarberatung machen. Ich kann mir vorstellen, in Zukunft mehr in die Richtung zu gehen.
Polysecure
Und damit sind wir auch schon fast beim heutigen Thema: Das Buch Polysecure von Jessica Fern, auf Englisch erschienen 2020. Jessica Fern ist eine weisse, bisexuelle und polyamor-lebende Psychotherapeutin aus den USA. In “Polysecure” widmet sie sich in dem Buch der Verbindung von Bindung, Trauma und Einvernehmliche Nicht-Monogamie (Consensual Nonmonogamy, CNM).
Ich wurde auf das Buch aufmerksam durch den Beitrag im Missy-Magazin. Ich habe mich sehr auf das Buch gefreut. Denn alles jenseits von monogamen hetero-cis-Beziehungen findet in der Literatur über Psychotherapie kaum Platz hat. Das Buch gibt viele Anregungen, wie die Arbeit mit nicht-monogamen Beziehungen in einem therapeutischen / beraterischen Setting aussehen könnte. Für Nicht-Fachleute fand ich das Buch allerdings fast zu technisch. Ich möchte hier eine Zusammenfassung und meine eigen Eindrücke geben.
Bindungstheorie in Kürze
Im Zentrum steht die die Bindungstheorie von John Bowlby. Dieser gilt als einer der Begründer der Bindungstheorie und entwickelte diese aus seiner Forschung zur Entwicklungspsychologie. Die Annahme ist, dass für uns als Kleinkinder die Bindung zu einer (oder mehreren) Bezugsperson(en) überlebenswichtig ist. Dies, weil wir unsere Bedürfnisse noch nicht selber erfüllen können. Je nach dem, wie unsere Bezugspersonen mit diesem Bindungsangebot umgingen, entwickelten wir unterschiedliche Bindungsstile. Gehen die Bezugspersonen relativ zuverlässig auf die Bedürfnisse des Kindes ein und schaffen so ein Gefühl von Sicherheit, entwickelt die Person einen sicheren Bindungsstil. Wenn nicht, dann entwickelt die Person einen unsicheren Bindungsstil, von dem es verschiedene Ausprägungen gibt.
Der vermeidende Bindungsstil entwickelt sich, wenn die Bezugspersonen dem Kind die gewünschte Nähe und Sicherheit nicht geben (können). So lernt das Kind, dass es auf sich selber gestellt ist und wird Probleme mit sich selber zu lösen versuchen. Und dies auch in Fällen, wenn es nicht besonders gut funktioniert.
Der ängstliche bzw. ambivalente Bindungsstil entsteht, wenn die Bezugspersonen nicht verlässlich auf die Bedürfnisse des Kindes eingehen. Es ist für das Kind unvorhersehbar, ob ein Verhalten nun gelobt, bestraft oder ignoriert wird. So lernt das Kind, dass es eher das bekommt, was es braucht, wenn sie es lauter und stärker einfordern. Diese Strategie einer “Hyperaktivierung” führt dann zu einem Bindungsstil, bei dem die Person immer Angst hat, ob eine Beziehung “verhält”. Dies führt auch dazu, dass sie sich oft sehr abhängig macht von anderen.
Schliesslich gibt es noch den desorganisierten Bindungsstil. Er wird auch als ängstlich-vermeidend bezeichnet und ist eine Mischung aus den beiden ersten unsicheren Bindungsstilen. Der desorganisierte Bindungsstil entsteht meist, wenn ein Kind die Bezugsperson als Bedrohung erlebt. Das Kind sucht zwar die Nähe zur Bezugsperson, da es diese zum Überleben braucht. Gleichzeitig ist diese Bezugsperson auch eine Ursache von Angst und Trauma. Eine Person mit diesem Bindungsstil zeigt sowohl vermeidendes als auch ängstliches Verhalten in Beziehungen. Fern beschreibt es als “ein Fuss auf dem Gaspedal, ein Fuss auf der Bremse”.
Bindungsstile sind auch ein Spektrum
Jessica Fern betont, dass diese vier Bindungsstile nicht absolut gesehen werden sollten. Eine Person kann mehrere Stile haben und auch je nach Beziehung und Gegenüber kann ein anderer Bindungsstil dominieren kann. Sie beschreibt die vier Stile auch eher auf einem Spektrum als als abgrenzbare Typen. Dies stellt sie anhand von zwei Achsen dar: Die eine Achse geht von “Tiefe Ängstlichkeit” – “Hohe Ängstlichkeit”. Die andere Achse von “Tiefe Vermeidung” – “Hohe Vermeidung”. Eher sichere Bindung erlebt also eine Person, die tief in Ängstlichkeit und tief in Vermeidung ist. Eine Person die eher hoch in Ängstlichkeit und in Vermeidung ist, erlebt dagegen desorganisierte Bindung.
Was hat das mit Einvernehmlicher Nicht-Monogamie zu tun?
Soweit zur Bingungstheorie. Was aber mit der Einvernehmlichen Nicht-Monogamie wie z.B. Polyamorie? Jessica Fern beschreibt hierzu verschiedene Punkte. Erstens geht sie davon aus, dass es für funktionierende polyamore Beziehungen wichtig ist, dass zwischen den Partner*innen eine sichere Bindung aufgebaut werden kann. Ausserdem beschreibt sie, wie besonders in Übergängen unsichere Bindungsstile aktiviert werden können.
So etwa beim Öffnen einer bisher monogamen Beziehung, wenn z.B. eine Person plötzlich die Beziehung als gefährdet erlebt. Es kann sein, dass sie sich immer weiter zurückzieht (vermeidender Stil). Oder dass sie grosse Angst vor einem Verlust der Beziehung hat und sich davon abhängig macht (ängstlicher Stil). Ähnliches kann aber auch bei anderen Veränderungen in den Beziehungen geschehen. Manche Therapeut*innen würden einem solchen Paar raten, es mit der Nicht-Monogamie besser sein zu lassen. Jessica Ferns Ansatz ist es zu schauen, wo die Unsicherheit herkommt und wie Sicherheit wieder hergestellt werden kann. Daher auch der Titel “Polysecure”, übersetzt “polysicher”: in polyamoren Beziehungen sicher sein können.
“HEARTS”
Sie hat aus ihren Erfahrungen und weiterer Forschung ein Modell entwickelt, wie polyamor lebende Menschen in ihren Beziehungen “polysicher” sein können. Die verschiedenen Aspekte davon fasst sie mit dem Akronym “HEARTS” zusammen:
H: “Hier sein”, für Partner*innen präsent sein und es ihnen auch zeigen
E: “Expressed Delight”, Freude über die Existenz von Partner*innen ausdrücken. Und zwar nicht nur über die Dinge, welche sie leisten, sondern über sie als Personen.
A: “Attunement” (Einstimmung), Sich auf die Partner*innen einstimmen können, Interesse und Empathie für sie zeigen.
R: Rituale und Routinen, die der Beziehung Halt geben und so für Sicherheit und Geborgenheit sorgen.
T: “Turning Towards after Conflict”, sich nach einem Konflikt wieder einander zuwenden können.
S: Sichere Bindung sich selbst gegenüber – für sich selber ein sicherer Hafen sein können.
Soweit eine sehr kurze Zusammenfassung des Buches. Natürlich konnte ich in diesem Rahmen nicht auf alles eingehen und habe einiges verkürzt dargestellt. Aber es reicht hoffentlichfür einen Eindruck, ob dich das Thema anspricht.
Mein Eindruck vom Buch und der Bindungstheorie
Mein Eindruck ist: Das Buch ist eine gute Einführung in die Bindungstheorie. Dies insbesondere, da Jessica Fern die Theorie ohne die üblichen mono-/hetero-Vorannahmen über Beziehungen vorstellt. Mir gefällt auch, dass sie die Typologie von Bowlby aufbricht, z.B. indem sie die vier Bindungsstile nicht als abgegrenzte Typen beschreibt, sondern sie eher auf einem Spektrum ansiedelt.
Ich persönlich stehe der Bindungstheorie insgesamt etwas ambivalent gegenüber. Ich muss aber auch zugeben, dass ich mich nie vertieft mit der Forschung dazu auseinandergesetzt habe. Also vielleicht verstehe ich gewisse Dinge auch falsch. Für mich fühlt sich das Modell recht normierend an. Der sichere Bindungsstil wird als Ideal dargestellt, zu dem hin sich alle entwickeln sollen. Das macht mich etwas skeptisch und ich habe auch den Eindruck, dass es (wie 99% der psychologischen Forschung) stark auf Beziehungsweisen bzw. Erziehungsnormen der westlichen weissen Mittelklasse aufgebaut (s. WEIRD).
Gleichzeitig finde ich es aber auch ein hilfreiches Modell, das auch mir schon geholfen hat, mein eigenes Verhalten und das von anderen besser zu verstehen. Deshalb wollte ich Jessica Ferns Buch auch hier vorstellen: Ich denke, es kann vielen eine gewisse Orientierung geben. Ebenso finde ich es einen sehr wertvollen Beitrag im Bereich von polyamoren Beziehungen. Deshalb wollte ich es auch hier im Podcast besprehcen.
In meiner Ausbildung haben wir übrigens nicht mit Bowlby Bindungstheorie gearbeitet sondern mit einem eigenen Modell von Bindungsprozessen. Dieses ist nicht so normierend, sondern beschreibt eher verschiedene Ebenen des Beziehungsgeschehens zwischen Menschen. Es hat auch stärker im Fokus, dass Beziehungen immer zwischen den beteiligten Menschen entstehen. In der Bindungstheorie wird dagegen stärker auf die Einzelperson geschaut.
Das war’s für diese Podcastfolge! Ich hoffe, ihr nehmt etwas davon mit. Und vergesst nicht, im Juni auf meinem Instagram vorbeizuschauen für tägliche Posts rund um Queerness und psychische Gesundheit!
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Musik:
Morning Routine by Ghostrifter Official, https://soundcloud.com/ghostrifter-official. Creative Commons — Attribution-ShareAlike 3.0 Unported — CC BY-SA 3.0. Free Download / Stream: https://bit.ly/_morning-routine, Music promoted by Audio Library https://youtu.be/lsbbGAKhxLI
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